Strahlende Gesichter: Kernkraftwerk Stendal



Geschichte

Mitte der 1970er Jahre erfolgte der erste Spatenstich für das neue Kernkraftwerk in der Nahe von Stendal, das neben dem KKW Greifswald das zweite große Atomkraftwerk der DDR werden sollte. Während der 1980er Jahr erfolgte der Aufbau des Reaktors 1, der peripheren Gebäude und der Infrastruktur. Die Inbetriebnahme des ersten Reaktorblocks war für 1991 geplant, der zweite Reaktorblock war bereits im Aufbau. Später sollten noch zwei weitere Reaktoren folgen und das Kraftwerk dann mit maximal 4 GW Leistung weite Teile der DDR mit Strom versorgen.


Zeichnung des geplanten Endausbaus. Grün die vier Reaktoren, blau die Turbinenhallen und rot "unser" Bürogebäude.

Nach der politischen Wende in der DDR wuchs der Widerstand der Bevölkerung gegen das mit russischen Reaktoren bestückte Kraftwerk, geschürt auch durch den Nuklearunfall 1986 in Tschernobyl, was letztendlich zu einem Entzug der Baugenehmigung und zu einer Aufgabe des Vorhabens führte. Es gab noch eine Studie, die bestehende Anlage auf das Niveau westlicher Technik zu bringen, doch auch diese wurde verworfen. Trotz der riesigen bereits getätigten Investitionen (der Aufbau kostete bis dahin 3,9 Milliarden Mark), erfolgte 1992 die Einstellung aller Bauarbeiten und der Beschluss der Liquidierung der Anlage. Seitdem sind die Abrissarbeiten in Gange und Gebäude um Gebäude verschwindet vom Areal. Die Reaktoren wurden nie gestartet, damit war der Rückbau zumindest ohne strahlende Altlasten möglich.


Eingangstor ins Werksgelände

Gebäude des Kernkraftwerks

Gebäude auf dem Kraftwerksgelände

Gebäude auf dem Kraftwerksgelände

Blick über Reaktorblock 1

Abrissarbeiten

Die 150 Meter hohen Kühltürme wurden in den 1990ern gesprengt, und von den Reaktorbauwerken ist heute auch nicht mehr viel übrig. Neben bzw. auf dem Kraftwerksgelände haben sich inzwischen neue Firmen angesiedelt, u.a. ein Zellstoffwerk.


Die Entdeckung

Im Sommer 2011 gelang es einem Hobbykollegen, bei der Grundstücksverwaltung die Schlüssel für die Bürogebäude zu bekommen und die Räume nach bergenswertem Material zu untersuchen.

Die Aktion begann mit einem sechsgeschossigem, u-förmigen Neubaublock, in dem in den 1980er Jahren die am Aufbau des Werkes beteiligten Firmen (sowohl aus der DDR als auch aus der Sowjetunion) ihre Büros hatten. Das Gebäude war 2011 noch in sehr gutem baulichen Zustand: Kein Wassereinbruch und die Fenster waren auch noch heil. Die Räume im Inneren waren weitgehend ausgeräumt, wahrscheinlich durch die Abrissfirmen. Trotzdem fanden wir später auch Spuren von Vandalismus bzw. von Kupferräubern, die doch irgendwie einen Weg in das Gebäude gefunden hatten.


Das Bürogebäude

Angemeldet sind wir: also rein!

In einem Zimmer im Erdgeschoss befand sich ein Teil des Werksarchivs in Form eines Berges lose auf dem Fußboden liegender Ordner. In einem weiteren Zimmer im Erdgeschoss befanden sich zwei Fernschreiber T51 und ein alter Aktenvernichter.

Im Erdgeschoss des Nachbartraktes, der nur über zwei Treppenhäuser im 1. Obergeschoss erreichbar war, stand ein riesiger SECOP-Kopierer. Ein weiterer befand sich in einem Zimmer im fünften Stock, zusammen mit einigen Flaschen voll zugehörigem Toner und Silikonöl. Anscheinend hatte das Gewicht der Kopierer verhindert, dass die Abrissfirma sie zwecks Verschrottung wegschleppten. Doch gegen uns sollten sie langfristig keine Chance haben...

In der ehemaligen Sanitätsstelle befand sich, neben herumgeworfenen Medizinsachen, ein DDR-EKG-Gerät.

In den mittleren Stockwerken entdeckten wir ein ehemaliges Rechenzentrum. Offenbar stand einmal ein K1630-Rechner dort. Leider war die Rechentechnik längst beräumt und nur die Schallschutzwände und die Reste der Klimageräte zeugten noch von seiner ehemaligen Verwendung.


Vielversprechendes Schild

Geplündertes Rechenzentrum

Buchungsmaschine Ascota170

Zerstörte Ascota-Lochbandeinheit

SECOP-Kopierer

Demontierter Ständerfußboden

In einem anderen Raum in den oberen Stockwerken befanden sich zwei Buchungsmaschinen Ascota 170. Eine hing noch in ihrem Metallgestell, die andere lag kopfüber auf dem Fußboden. In einer Ecke lag die zugehörige Lochband-Peripherie, leider mit bereits abgeschnittenen Datenkabeln und ohne zugehöriges Schränkchen, außerdem zwei passende Multipliziergeräte TM20. Wie sich schnell herausstellte, war die heile Maschine eine Ascota170-TMLB und die defekte eine Ascota170-TM20.


Bergungsaktionen

Archivsichtung

Unser Hobbykollege verbrachte Wochen im Archiv, die Unterlagen zu sichten und interessante Akten über Rechentechnik und über das Kraftwerk selbst heraus zu sortieren. In den folgenden Wochen verlagerte er den Papierberg stückweise ins Nachbarzimmer, was damit auch gleich viel aufgeräumter wirkt. Die Sachen, die wir dort zurücklassen, werden wahrscheinlich demnächst ein Opfer des Abrissbaggers werden.


Chaotisch: Das Papierarchiv

Gleich viel aufgeräumter: Umgeschichtetes Archiv

Ein Teil der geretteten Dokumente kann inzwischen auf der unten verlinkten Website angesehen werden.


Abtransport 1

Die wertvollsten rechentechnischen Artefakte waren die Lochbandgeräte für die Ascota 170. Auch wenn die schon in halbzerstörtem Zustand waren, handelte es sich doch wahrscheinlich inzwischen um Unikate. Auf dem Weg zum Urlaub an der Ostsee im Jahr 2011 machten wir eine Stippvisite in Stendal und verluden diese Einheiten. Sie sind inzwischen im Rechenwerk Halle eingelagert.


Nichts für ängstliche Menschen: Urlaub im Atomkraftwerk

Wandfries im Bürogebäude des Kernkraftwerks



Abtransport 2

Da wir im Museum durch die Bergung der Rechentechnik aus dem Gummiwerk Schönebeck zu Ascota170-Maschinen gekommen waren, hatten wir Interesse an weiteren Maschinen dieses Typs, notfalls als Ersatzteilspender. Das Elektromuseum Erfurt interessierte sich außerdem für einen SECOP-Kopierer, dessen Bergung wir aufgrund der sonst schwierigen Abhol-Logistik übernahmen. So besuchten wir Anfang September 2011 zu viert mit zwei PKW erneut das Kraftwerk: wir hatten es auf die Ascotas und einen Kopierer abgesehen.

Eine Ascota-Buchungsmaschine wiegt ungefähr 70 kg. Trotzdem gelang es dem zuerst eingetroffenen Hobbykollegen, ein Gerät allein aus dem fünften Stock bis ins Erdgeschoss zu verfrachten. Sportliche Leistung! Die andere Ascota 170 trugen wir dann zu weit die Treppen runter, beide Maschinen verschwanden problemlos in den Kofferräumen unserer Autos, ebenso das Metallgestell, in dem die eine Ascota hing. Da sich diese Maschinen nicht einfach hinlegen lassen, ist so ein Gestell für die dauerhafte Lagerung des Rechners unerlässlich.

An der sturzgeschädigten Maschine fehlten bereits einige Tasten. Bei einer gründlichen Durchsuchung des Zimmers kamen noch einige zum Vorschein, wenn auch z.T. zersplittert.


Die intakte Ascota 170 (ohne Buchungswagen)...

...und ihre schwerbeschädigte Schwester

Die erste Ascota ist unten angekommen.

Die Treppenhäuser füllen sich mit zusehend Bergungsmaterial

Eine schweißtreibende Arbeit war der Abtransport des 92 kg schweren Kopierers aus dem Erdgeschoss: erst ein Stockwerk hoch tragen, durch einige Gänge rollen und dann wieder ein Stockwerk runter tragen. Anschließend nahm der Kopierer quer im Auto hinter der Ascota 170 platz. Da in den Autos immer noch etwas freier Raum war, nahmen wir auch noch das Innenleben eines Fernschreibers mit und füllten freie Ritzen mit Bürotechnik, Papierstapeln und Lochbändern.


Schwer beladen: der Mercedes

Die freien Stellen im Kofferraum wurden auch noch gefüllt.

Der erste Secop reist im Octavia,...

...ebenso die Fernschreib-Mechanik.

Den Kopierer haben wir erst einmal in Merseburg untergestellt, er wird irgendwann seinen Weg nach Erfurt finden. Die Fernschreiber-Komponenten kampierten auch einige Wochen in Merseburg, bevor sie bei einem neuen Besitzer wieder mit ihrem Gehäuse vereint wurden.


Ankunft der Fuhre in Merseburg

Auch dieser Drucker wurde gerettet.



Abtransport 3

Nachdem wir die Existenz der zwei Fernschreiber publik gemacht hatten, meldete das Industriemuseum Schönebeck Interesse an einem Gerät an. Außerdem konnten wir das Bürotechnikmuseum in Naunhof überreden, den anderen SECOP-Kopierer in ihren Fundus aufzunehmen. So besuchten wir Ende September 2011 das Werk erneut, ein Hobbykollege vom Bürotechnikmuseum Naunhof kam auch mit und lud unterwegs auch einen Hobbykollegen vom Industriemuseum Schönebeck ein.

Der zweite SECOP befand sich im 5. Obergeschoss. Mit seinen 92 kg Lebendgewicht war es nicht einfach, ihn ins Auto zu befördern. Ebenerdig bewegten wir ihn auf einem mitgebrachten Rollwagen, die Treppe runter ging's nur mit Muskelkraft: drei Leute schleppten das Gerät, in jedes Stockwerk hatten wir vorher einen Stuhl gestellt, um den Kopierer immer wieder abzusetzen und uns zu erholen. Irgendwann hatten wir es geschafft und der Kopierer wurde erfolgreich im PKW Kombi des Museumsmitarbeiters verstaut.


Gewichtige Technik: SECOP-Kopierer anheben...

...durch die Gänge rollen...

...die Treppen etagenweise hinunter wuchten...

...und ins Auto verfrachten.

Bei den Öl- und Tonerflaschen des SECOPs erlebten wir eine böse Überraschung: durch den Inhalt und die Sonneneinstrahlung waren die Flaschen versprödet und zerbröselten beim Hochheben wie dürres Laub.

Der Fernschreiber T51 wurde soweit wie möglich zerlegt. Zum Glück ist dieses Gerät nicht so schwer wie der Kopierer. Doch auch hier steckte der Teufel im Detail: eine Schwingtür, die sich nur zur einseitig öffnen ließ, war zu schmal für das unzerlegbare Fernschreiber-Holzgehäuse. Hier bliebt uns nichts weiter übrig, als Tür und Fußboden rohe Gewalt anzutun und so meisterten wir auch dieses Hindernis. Der Fernschreiber reiste mit uns ebenfalls in einem PKW Kombi und wurde bei einem Zwischenstopp in Schönebeck abgeladen.


Fernschreiber Nr. 2...

...wurde untersucht,...

...entkernt...

...und nahm auf dem Beifahrersitz platz,...

...während sein Gehäuse im Kofferraum reiste



Abtransport 4

Die vierte Aktion galt ausschließlich dem noch dort befindlichen Gehäuse des ersten Fernschreibers T51, der seine neue Heimat in Privatbesitz in Braunschweig finden sollte. Eine Woche später kamen auch die vormals ausgebauten Fernschreiberkomponenten von Merseburg nach Braunschweig. Inzwischen ist das Gerät wieder zusammengebaut und die Reparatur ist im Gange.


Zusammenfassung

Bei uns im Rechenwerk Halle sind aus Stendal gelandet: Im Museum für historische Bürotechnik in Naunhof ist gelandet: An das Elektromuseum Erfurt ging: Und in Privatbesitz ging:


Aufbau

Buchungsautomaten Ascota 170

Diese Geräte wurden für Abrechnungs-, Lagerhaltungs- und Überweisungszwecke benutzt. Sie beinhalten einen mechanischen Rechner und haben außerdem Anschlüsse für elektronische Peripherie.

Die Ascota 170-TM20 mit der eingedrückten Tastatur soll als Ersatzteilspender für die Ascota 170-LB und die derzeit in Reparatur befindliche Maschine aus dem Gummiwerk Schönebeck dienen und musste in diesem Zuge auch bereits einige Kleinteile abgeben. Leider sind auch einige elektrische Komponenten auf der Unterseite der Maschine durch den Sturz zerstört.

Die Ascota 170-LB (Baujahr 1973) hängt inzwischen wieder in ihrem Metallgestell und ist im Fundus des Museums eingelagert. Wenn wir wieder Kapazitäten frei haben, wollen wir diese Maschine reparieren, ist sie doch anscheinend heute ein Unikat. Von allen damaligen Ascota 170-Varianten ist diese übrigens die komplexeste.


Unsere Ascota 170 im Museum, noch ohne Buchungswagen

Rückseite der Maschine mit den Anschlussfeldern

Irrsinnig komplizierte Mechanik

Die für die Lochbandvariante typischen Lampen

Inzwischen haben wir begonnen, die Maschine zu reinigen und Gelenke zu ölen. Erfreulicherweise ist die Stendaler Maschine in einem wesentlich besseren inneren Zustand (was Rost und Schmutz betrifft) als unsere Maschine aus dem Gummiwerk. Unterlagen und Werkzeug haben wir ja zum Glück für diesen Maschinentyp und auch einige Erfahrungen bei der Reparatur dieser Maschinen. Somit ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Maschine wieder rechnen wird.
Zusammen mit dem Buchungsautomat haben wir auch neun Programmbrücken gerettet. Ihre Funktion sind weitgehend bekannt, das wir über einen Reassembler für diese Art Software verfügen.


Erste Reparaturarbeiten an der Ascota 170

Programmbrücke mit dem Anwenderprogramm

Die beiden Multipliziergeräte TM20 waren mechanisch in gutem Zustand. sie wurden Anfang 2013 im Zuge der Rekonstruktion der Gummiwerk-Maschine repariert und sind nun wieder funktionsfähig. Leider fehlen die Kabel, die zwischen Rechner und Multiplizierwerk gehören, die können wir aber nachbauen, da noch Vorlagen dazu existieren.

Ascota Lochbandeinheit

Die Lochbandeinheit war ein Zusatzgerät für den Buchungsautomat Ascota 170 (eingebaut in den Arbeitstisch) und ermöglichte, die eingegebenen bzw. berechneten Werte formatiert auf Lochband auszugeben. Das so entstandene Datenlochband wurde dann üblicherweise an ein Großrechenzentrum übergeben, meist zum Zwecke der Lohnrechnung.

Mit der Lochbandtechnik aus Stendal hatten wir große Schwierigkeiten: Alles in allem nicht gerade gute Voraussetzung zum Start eines Reparaturprojektes.


So hatten wir die Anlage im KKW gefunden

Die geretteten Komponenten, lagerichtig angeordnet

Von Kupferräubern abgekniffene Kabel

Gehäuse

Mitte 2012 begannen wir zunächst mit der Lösung der einfachen Probleme. Um die Lochbandtechnik irgendwie mal einsetzen zu können, brauchten wird als erstes ein passendes Gehäuse. Da das Originalgehäuse leider nicht mehr existiert, haben wir eins aus passend-gesägten Baumarkt-Brettern gezimmert und zur Erlangung von Mobilität mit Rädern an der Unterseite versehen.


Ganz allmählich entsteht...

...hier ein Gehäuse für die Lochbandtechnik

Fertige Einheit von vorn...

...und von hinten (von links Stanzer, Netzteil, Sloteinheit)

Tastatur und Netzteil

Eine Bedientastatur haben wir von einem befreundeten Museum bekommen, allerdings waren bei der die meisten Tastergehäuse an den Schraubgewinden zerbrochen (ein leider hinreichend bekannter Produktionsfehler dieser Taster). Mittels Spezialkleber haben wir die Gehäuse ganz vorsichtig repariert, was letztendlich auch erfolgreich war. In den Tasten stecken Glühlampen (Telefonlampen), von denen einige defekt waren, aber die ließen sich ohne Probleme nachbeschaffen.


Zerlegte Bedientastatur

Bedientastatur, fertig repariert

Das Netzteil war die einzige Komponente, die keinen großen Ärger machte: nach Tauschen einiger Sicherungen, Formieren der Elkos und Nachstellen der Spannungen lief es auf Anhieb. Allerdings mussten wir die Ferneinschaltung überlisten, um das Gerät auch ohne Buchungsmaschine betreiben zu können.

Lochbandwickler

Die Mechanik der Lochbandwickler war in sehr schlechtem Zustand. Die Gummi-Reibräder der Lochbandwickler waren durch Alterung zu einer teerartigen Masse zerfallen, die wie Camembert von den Achsen tropfte.


Zermatschter Reibradbelag im Lochbandleser

Reibrad nach der Reparatur

Als Ersatz für die Reibräder erwies sich eine Reihe quadratischer Dichtungsringe aus der Sanitärabteilung des Baumarkts brauchbar, die wir anschließend mit der Feinschleifmaschine ausgewuchtet haben.
Den Keilriemen, übrigens ein altes bundesdeutsches Produkt, können wir mangels passendem Ersatzteil leider nicht wechseln. Die Lochbandwickler laufen nach wie vor nicht ganz rund, aber immerhin: sie funktionieren wieder.

Lochbandleser

Der Lochbandleser wollte zunächst gar nicht arbeiten. Die Gummi-Treibriemen des Lochbandlesers waren durch Versprödung zerfallen. Wir ersetzten sie durch passende runde Gummi-Dichtungsringe.
Die Leistungstransistoren (Tesla KU606) des Lesers waren durchgebrannt, auch die ließen sich zum Glück durch baugleiche ersetzen.
Die Brems/Kuppelmechanik funktionierte auch zunächst nicht. Die Bremse war schnell zerlegt und es zeigte sich, dass sie einen Polyurethanbelag hatte, dessen Oberfläche durch Materialzerfall klebrig und rissig geworden war. Wir tauschten die Bremse mit der aus einem anderen Lochbandleser, wohl-wissend, dass das Problem irgendwann wieder kommen wird. An die Kupplung war schlecht heranzukommen: nach einigen vergeblichen Reparaturversuchen merkten wir, dass man dazu den Leser weitgehend zerlegen und einen Keilstift aus der Hauptwelle hämmern muss, was diese allzu leicht mit Verbiegung quittierte. Für diese Mechanik sollte man den Konstrukteur heute noch bestrafen!
Auch der Kupplungsbelag bestand aus Polyurethan und auch der war klebrig und rissig geworden. Nach Entfernung des alten Belags schnitzten wir aus einem Stück Fahrradschlauch einen neuen, klebten ihn ein und schliffen ihn mit dem Schwingschleifer glatt. Läuft! Die elektrischen Abtastbürsten, mit denen das Gerät die Lochungen im Band erkennt, waren zum Glück unbeschädigt und bedurften nur einer Reinigung.


Zerlegter Lochbandleser. Links die Kupplungsscheibe

Defekter Bremsbelag

Abtastbürsten des Lochbandlesers

Reparatur am Lochbandleser

Lochbandstanzer

Der Lochbandstanzer wollte sich zunächst nur nach Anschieben drehen, wir befürchteten schon einen Defekt im Motor. Doch es stellte sich heraus, dass er aufgrund eines Verkabelungsfehlers von uns fälschlicherweise statt mit 230V nur mit 110V versorgt wurde.
Der PUR-Treibriemen des Stanzers machte Lärm, da er Risse hatte und nur noch durch seine inwendigen Fäden zusammengehalten wurde. Wir ersetzten ihn mangels verfügbarer Neuware durch ein altes Originalteil aus einem befreundeten Museum. Damit drehte sich der Stanzer schon mal, aber er wollte noch nicht stanzen: er knirschte inwendig nur, das Lochband lief ungestanzt durch, bekam lediglich eine leichte Prägung. Auch Zerlegen, Reinigen und Ölen brachte keine Besserung. Die Lösung kam nach langem Tüfteln durch das Ausmessen des Zeitverhaltens an einem ähnlichen Gerät: Abhängig vom Drehwinkel des Hauptmotors werden Sensoren ausgelöst, die der Steuerelektronik sagen, in welchem Moment sie die Daten an den Stanzer liefern muss. Diese Sensoren waren um fast 180° verdreht, wahrscheinlich als Folge des Sturzes, den das Gerät im Kernkraftwerk erlitten hatte. Nach Neueinstellung der Sensoren konnten wir zumindest schon die Transportspur aufs Lochband stanzen.


Reparatur des Stanzers

Lochbandstanzer-Innenleben. Oben rechts die Sensoren.

Hurra, der Stanzer funktioniert!

Verkabelung

Beim Problem mit den abgeschnittenen Datenkabeln half uns einige Zeit später die Erinnerung an ein altes Maschinenwrack in einer Industrieruine, in dem tatsächlich die Verkabelung überlebt hatte. Wir haben also die betroffene Sloteinheit ausgetauscht und einige fehlende Leiterplatten ergänzt. Kaum fertig, entdeckten wir, dass beide Sloteinheiten doch nicht identisch sind: sie unterscheiden sich in den Anschlusssteckern der Datenkabel, denn die neue Sloteinheit wurde einst an einer Ascota071-Buchungsmaschine betrieben und die hat daro32-Stecker, im Gegensatz zu den Messerleisten der Ascota 170. Nachdem wir Monate später endlich einen Schaltplan bekommen hatten, bestand die Lösung im Bau zweier Adapterkabel, mit denen wir die Lochbandeinheit künftig an beiden Buchungsmaschinenarten betreiben können.

Literatur

Dreh- und Angelpunkt weiterer Reparaturen war ein tiefgreifendes Verständnis der inneren Funktionen dieses Geräts und das hatten wir mangels Dokumentationen und mangels Vergleichsgerät zunächst nicht. In Antiquariaten kauften wir zusammen, was es noch an Literatur zur Lochbandeinheit gab, außerdem wurden wir in den Archiven befreundeter Museen fündig. Da letztere Literatur nur geliehen war und um parallel an mehreren Orten lernen zu können, scannten wir die Hefte ein und druckten sie bei Bedarf auch nach. Die wichtigsten Unterlagen waren der Schaltplan des Geräts und die Programmierungsbeschreibung. Im nächsten Vierteljahr war täglich abends das Studium der Schaltung angesagt und zunehmend verstanden wir auch, wie das Gerät funktionieren sollte.
Erschwerend war, dass die Hefte in einer seltsam altertümlichen Technikersprache geschrieben waren (Leseprobe: "Spr1 ein/bl.Z ist in der Kolonne zu programmieren, in der ein beliebiger Sprung eingeleitet werden soll; die BE Spr1 wird gespeichert. Das Programmband springt, wenn Motorkontakt gegeben wurde").
Die Schaltzeichen im Schaltplan entsprechen nicht dem heutigen internationalen System und mussten von uns erst mal zugeordnet werden.


Unentbehrlich: das Handbuch.

Mogelbrett

Unsere originale Kernkraftwerk-Buchungsmaschine ist leider noch nicht einsatzbereit, so entschieden wir, das Lochbandgerät zunächst an der Buchungsmaschine aus dem Gummiwerk zu betreiben. Diese besitzt allerdings zwar kein Lochbandinterface, aber immerhin die Anschlüsse für einen elektronischen Koprozessor TM20, der dem Lochbandinterface zumindest ähnelt. Also wurde der Bau eines kleinen Mogelbretts notwendig, das die fehlenden Interfacesignale simuliert und außerdem während der Reparatur eine Arbeit des Lochbandgeräts auch ganz ohne Buchungsmaschine erlauben soll.


Erster, provisorischer Aufbau des Mogelbretts

Endgültige Version des Mogelbretts

Leiterplatten

Da die Lochbandeinheit nach wie vor zu keiner vernünftigen Arbeit bereit war, ging es als nächstes den Leiterplatten an den Kragen: Wir haben sämtliche Halbleiter auf sämtlichen Leiterplatten einzeln durchgemessen (das sind einige hundert) und es fanden sich jede Menge defekte Germaniumtransistoren und -Dioden. Die waren übrigens nur selten durchgebrannt, sondern meist durch Alterung in Durchlassrichtung hochohmig geworden. Zum Glück hatten wir noch originalgetreue Ersatzteile bzw. konnten welche beschaffen. Beim Löten der Pertinax-Leiterplatten muss man ganz vorsichtig sein, denn die Leiterzüge lösen sich leicht ab.
Parallel zum Kernkraftwerk-Lochbandgerät hatten wir zwei weitere Lochbandeinheit-Kartensätze da liegen. Nach wochenlangem Messen und Bauteile-Tauschen gelang es uns, aus den drei Kartensätzen einen halbwegs funktionierenden zu rekrutieren und dann mit gezielter Fehlersuche den einzelnen Fehlern auf die Spur zu kommen, deren Ursache wieder zu 100% in defekten Halbleitern lag.


Messen an den Elektronikkomponenten

Reparatur der Elektronikkomponenten

Software

Die Software dieses Geräts ist ungewöhnlich: Sie befindet sich auf einem zur Endlosschleife geklebten Programm-Lochband und besteht aus mehreren Unterprogrammen. Die Buchungsmaschine sagt dem Lochbandgerät, an welcher Tabellenspalte sie gerade steht und wählt auf diese Weise aus, welches Unterprogramm abgearbeitet werden soll. Die Lochbandeinheit sollte daraufhin das Programmlochband an den Anfang des passenden Unterprogramms vorspulen und dieses dann abarbeiten. In diesem Zuge fragt das Lochbandgerät auch den aktuellen Datenwert der Buchungsmaschine ab und gibt ihn, eingebettet in entsprechende Steuerzeichen, auf das Datenlochband aus.

Unser erstes Programmlochband entstand handgelocht im Lochband-Repariergerät und bestand am Anfang nur aus 2 Byte. Woche für Woche wurde das Programm länger, das Erstellungsverfahren blieb dasselbe. Programmkorrekturen machten wir, indem wir Teile aus dem Lochband heraus schnitten und neue einklebten. Seit die Lochband-Duplizierfunktion repariert ist, können wir solche zusammengestückelten Bändern auch ab und zu auf ein "monolithisches" Band übertragen.
Bemerkenswert ist noch, dass diese Lochbandeinheit mit 16-Bit-Befehlen arbeitet, also immer 2 Byte pro Befehl liest. Um nicht mit den Befehlen durcheinander zu kommen, wechselt die Parität des Lochbandes zwangsweise nach jedem Byte: ein sehr ungewöhnliches Verfahren. Man muss diesbezüglich beim Programmieren höllisch aufpassen, denn die Maschine stoppt die Verarbeitung mit einer Fehleranzeige beim ersten Paritätsfehler. Welches der beiden Bytes die gerade Parität haben muss, ist durch unterschiedlich einlötbare Dioden festgelegt, das haben wir leider erst nach vielen Fehlversuchen herausgefunden.

Ein an einem Bürocomputer K8924 angekabelter Lochbandleser 1210 erlaubt uns mittlerweile, den Inhalt der Programmbänder auch auf dem PC zu sichern. Zur Überprüfung, ob wir richtig gelocht hatten und auch zur Analyse der vorhandenen Programmbänder schrieben wir ein Reassemblerprogramm, das den Lochbandinhalt am PC auf Knopfdruck in kommentierten Quelltext umwandelt. Über den Bürocomputer können wir nun bei Bedarf auch am PC assemblierte Programmlochbänder auf einem Stanzer 1215 auch wieder stanzen.
Außerdem haben haben wir inzwischen ein kleines altes Programmiergerät bekommen, das an die Lochbandeinheit gesteckt wird und mit dem durch Drücken von acht Schaltern und einem Vorschubtaster byteweise ein Programmlochband erzeugt werden kann. Dieses Verfahren ist aber fast genauso mühsam und fehleranfällig wie das Handlochen. Es gab früher mal vom Hersteller ein Programmiergerät, das die Parität selbst berechnete, für diese Anlagen, aber davon existiert heute vermutlich keins mehr.

Präsentation

Nach 1 Jahr Reparatur war es dann endlich soweit: alle Leiterplatten funktionierten wieder. Wir haben außerdem ein Beispielprogramm gestanzt, das vier Unterprogramme für Datenspalten der Buchungsmaschine enthält. So ausgerüstet bekam das Gerät seinen ersten Auftritt in der Öffentlichkeit beim KC-Treffen 2013, wo es vorgeführt und in einem Vortrag erklärt wurde. Aus Platzgründen haben wir übrigens dort erstmalig die Vereinigung mit der Buchungsmaschine durchgeführt, was glücklicherweise ohne größere Nacharbeiten klappte.


Lochbandeinheit und TM20 beim KC-Treffen 2013

Letzter Akt von uns war das Schreiben eines PC-Programms, das beliebige Texte in Programmbefehle der Lochbandeinheit umwandelt, die dann als Programmlochband in die Lochbandeinheit eingelegt vom Stanzer als Klartext ausgegeben werden.
Damit haben wir die wahrscheinlich weltweit einzige heute noch an einer Ascota-Buchungsmaschine laufende Lochbandeinheit. Die Anlage steht seitdem vorführbereit im Rechenwerk Halle.

Umzug

Im Jahr 2013 zeichnete sich zunehmend ab, dass die Räumlichkeiten im Chemiemuseum nicht mehr langfristig zur Verfügung stehen werden. Mit dem Aufbau des neuen Rechenwerk Halle wurden Anfang 2014 auch alle unsere Geräte aus Stendal dorthin umgezogen. Im Laufe des Jahres 2014 sollen die Maschinen dort in funktionsfähigem Zustand ausgestellt werden.


Danksagung

An der Bergung der Geräte haben mitgewirkt: Weiterhin danken wir:

Links

Rechenwerk Halle
Kernkraftwerk Stendal - gestern - heute - morgen
Museum für historische Bürotechnik Naunhof




Letzte Änderung dieser Seite: 09.05.2023Herkunft: www.robotrontechnik.de