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Robotrontechnik-Forum » Technische Diskussionen » Ein Problem beim Produktionsstart des MR 6090? » Themenansicht

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31.12.2024, 08:12 Uhr
AE
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Ein Problem beim Produktionsstart des MR 6090?
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Angeregt durch eine Unterhaltung über "Datums-Kodes" und Fehlern von im VEB Werk für Fernsehelektronik Berlin hergestellten Flüssigkristall-Anzeigen (LCD) bemühe ich mich, die "Dokumentation zu den in der DDR hergestellten elektronischen Taschenrechnern" entsprechend zu ergänzen. Dazu sichtete ich bereits vorhandenes Bildmaterial sowie mir gegenständlich zugängliche Taschenrechner. Natürlich mit dem Ergebnis, daß mal wieder nachzuarbeiten war.
Folglich baute ich passende LCDs aus und versuchte mich mit dem Fotografieren derartiger Beispiele. Wobei ich über eine mir bereits bekannte Auffälligkeit beim Taschenrechner MR 6090 stolperte.
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Der MR 6090 ist ein wissenschaftlicher Taschenrechner im Querformat mit leicht abgewinkelter Anzeige, hergestellt im VEB Mikroelektronik "Wilhelm Pieck" Mühlhausen. Nur (119 * 82) mm klein, 8 mm dünn und mit 2 Primärzellen 75 g leicht. Mittels 37 quadratischen Tasten können alle mathematischen Funktionen aufgerufen werden, die auch im MR 609 bzw. dem Schulrechner SR 1 realisiert sind. Zusätzlich verfügt er über zwei Umrechnungen der Zahlendarstellung. Im Rechenbetrieb benötigt er laut Hersteller weniger als 500 µW. Auf Grund der extrem kleinen Leistungsaufnahme im AUS-Zustand, verzichtete man auf einen trennenden EIN/AUS-Schalter. Diese Funktion übernahmen zwei Tasten.
Weitere Besonderheiten zeigen sich im Inneren:
Eine flexible Leiterfolie verbindet die Leiterkarte mit der Flüssigkristall-Anzeige sowie den Primärzellen und enthält darüber hinaus noch den Kontaktkamm für die EIN-/Lösch-Taste. Diese Kontaktierungs-Variante für die LCD kam im MR 6090 erstmals und somit gleichzeitig einmalig bei DDR-Taschenrechnern zum Einsatz. Die Leiterfolie wurde entsprechend dem bei der Serienausführung vorgefundenen Firmenzeichen im VEB Elektrophysikalisches Werk Neuruppin hergestellt. Die Kupfer-Leiterbahnen sind beidseitig mit Folie bedeckt und die frei liegenden Kontakt-Flächen galvanisch vergoldet. {3}
Auch die bereits im MR 420 eingesetzte Tastatur-Konstruktion kam wieder zum Einsatz. Bei einer Betätigung wird die Taste mit aufgedruckter Funktion auf eine profilierte Kunststoff-Folie gepreßt, die an der Kontaktfläche mit Leitgummi beschichtet ist, und so die vergoldeten Kontaktkämme auf der Leiterkarte elektrisch verbindet.
Als der MR 6090 auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1988 erstmals vorgestellt wurde, ahnte noch niemand, daß es sich um den letzten in die Serienproduktion überführten, elektronischen Taschenrechner aus Mühlhausen handeln würde.
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Im Zusammenhang mit einem Vortrag aus Anlaß 45 Jahre minirex "im" Elektromuseum Erfurt am 5. Dezember 2018 übergab man mir ein Fertigungs- bzw. Gestaltungsmuster des MR 6090. {4} Es trägt auf der Unterseite keine Gerätenummer, dafür die Aufschrift "fehlerhaft". Wieder zu Hause angekommen konnte ich nicht lange widerstehen, sondern suchte nach der Ursache der
Nichtfunktion. Im Vergleich mit einem Serien-Exemplar bemerkte ich im Inneren recht schnell etliche Veränderungen:
So fehlten z.B. an der Kunststoff-Oberschale Halte-Krallen für die Leiterkarte, das LCD und das Kontakt-Blech. Bei Vorhandenen war die Lage, Größe oder Form verändert. Auch die Kontakt-Bleche unterschieden sich. Selbst die Leiterfolien hatten nicht nur verschiedene Postennummern.
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Hier nun für Interessierte eine Aufgabe für langweilige Minuten: Sucht spaßeshalber mal die in vorstehenden Fotos enthaltenen Unterschiede.
Bitte stellt keine Bilder mit angekreuzten Veränderungen ein! Ihr verderbt anderen die Freude am Suchen ...

Mein Resumee: Das mir übergebene Exemplar ist im vorgefundenen Zustand nicht betriebsfähig. Da jedoch alle Komponenten vorhanden sind und ich davon ausgehe, daß vorsätzlich z.B. kein defekter Taschenrechner-Schaltkreis oder eine fehlerhafte Flüssigkristall-Anzeige verbaut wurden, ist es wahrscheinlich mittels Bastelei reparierbar. Doch verzichtete ich darauf, um es als technikmuseales Belegstück zu erhalten.
(Mir ist eine solche Problematik nicht unbekannt. Denn ich durfte nicht nur einmal eine schnelle Lösung finden und umsetzen, damit eine neu entwickelte Maschine mit Konstruktionsmängeln auf Messen in Funktion vorgeführt werden konnte. Eigentlich hätte derartiges in der DDR auf Grund verbindlicher staatlicher Vorgaben für den Entwicklungsprozeß und die Überführung in die Serienproduktion gar nicht vorkommen dürfen. Doch die Praxis sah manchmal anders aus ...)

Da es sich augenscheinlich nicht um ein Einzelstück handelt, das nach Iwan Lokomofeilowitsch aus dem Ganzen gefräst wurde (und 3D-Druck gab es zu dieser Zeit noch nicht), sondern es mittels teurer, weil extra zu diesem Zweck konstruierter und angefertigter, spezieller Werkzeuge und Vorrichtungen hergestellt wurde, mußte nun kurzfristig und außerplanmäßig noch vor dem Beginn der Serienproduktion Abhilfe geschaffen werden. So gab es wahrscheinlich ziemlichen Knatsch, denn der Start ließ sich nicht beliebig lange hinausschieben. Schade nur, daß dafür keine Berichte oder Aufzeichnungen von Augenzeugen auffindbar sind, denn in der Betriebszeitung, "Mikroelektronik Report" stand davon kaum etwas. Aber vielleicht regen diese Zeilen doch noch einen, der noch lebenden Beteiligten zu einer Äußerung an?
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Der "dickste Brocken" dabei dürfte das erforderliche neue Spritzguß-Werkzeug für die Oberschale aus ABS-Kunststoff gewesen sein. Der Entwurf eines solchen komplexen, detailreichen und filigranen dreidimensionalen Objektes und dessen Umsetzung in die negative Gußform, wobei ständig die technologische Herstellbarkeit sowohl des Werkstücks, als auch des Werkzeugs beachtet werden muß, - das ist für mich hohe Ingenieurskunst und -können! {5}
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Auch wenn dazu wahrscheinlich bereits CAD-Technologie genutzt wurde, wage ich zu bezweifeln, daß eine durchgängige elektronische Datenweitergabe bis hin zum Steuerprogramm des CNC-Bearbeitungszentrums gewährleistet war. Wie viele 'trial-error'-Durchläufe waren ohne 3D-Ergebnis-Simulation erforderlich?
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Ebenso war die Kontur des Kontaktbleches zu ändern. Was bedeutete, auch hier war die Konstruktion des kombinierten Stanz- und Preßwerkzeugs zu überarbeiten und dieses neu anzufertigen. Das war bei diesem kleinen, stark strukturierten Teil sehr wahrscheinlich nicht ganz trivial und setzte große Erfahrung voraus. Um eine saubere Schnittkante zu erzielen, darf der Spalt zwischen Ober- und Unterteil nicht größer als die halbe Blechdicke sein. Die mit einer Meßschraube ermittelte Dicke beträgt 0,1 mm. D.h., die beiden Werkzeugteile waren mit einer Präzision besser 50 µm in höchster Oberflächengüte herzustellen! Um eine hohe Standzeit des Werkzeugs zu garantieren, müssen die beim Stanzvorgang aktiven Schnittkanten gehärtet sein.
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Warum auch noch die Leiterfolie geändert wurde, erschließt sich mir aus dem vorliegenden Material nicht. Auf jeden Fall bedeutete das einen enormen Aufwand, denn die dafür vom Neuruppiner Elektrophysikalischen Werk geforderten strikten Vorgaben waren zu erfüllen. Dort wartete man nicht auf Aufträge, sondern versuchte, möglichst viel Arbeit an den Auftraggeber abzuwälzen. Üblicher Weise waren alle für die Herstellung der Leiterkarten erforderlichen
Glasoriginale sowie nach Standard digitalisierte Zeichnungen für die Leiterkarten
Bearbeitung zu übergeben. Wie die Forderungen bei der unregelmäßigen Kontur der Leiterfolien waren, ist mir nicht bekannt. Auf jeden Fall wurde in der Serie zunächst noch die im Fertigungsmuster vorgefundene Variante mit der Postennummer 99800 (Es könnte auch 00866 sein?) eingesetzt (z.B bei Nr. 000 108). Auf Grund der nur wenigen dokumentierenden Fotos kann ich nicht sagen, ab wann der MR 6090 mit der Leiterfolie 80110 ausgestattet wurde. Das erste mir diesbezüglich bekannte Exemplar trägt die Gerätenummer 007 962.
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Jede hier angeführte Änderung erforderte, wie man es nebulös ausdrückte, eine Fortschreibung des Erzeugnis-Standards (TGL). Das Geschriebene soll die enormen Aufgaben illustrieren, welche von den Werktätigen des VEB Mikroelektronik "Wilhelm Pieck" Mühlhausen im Zeitraum um den Serienstart des MR 6090 außerplanmäßig und zusätzlich abzuarbeiten waren, um vom
staatlichen Amt für Standardisierung, Meßwesen und Warenprüfung (ASMW) eine überprüfte und attestierte Qualitätseinstufung zu erreichen. {6} Ich fand jedoch selbst bei der höchsten von mir dokumentierten Gerätenummer 120 555 aus der Zeit kurz vor der durch die Treuhandanstalt in Berlin veranlaßten Produktionseinstellung im Sommer 1990 kein Exemplar mit aufgedrucktem Gütezeichen ...
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Anmerkungen:

{1}
Die vorstehenden Aussagen beruhen ausschließlich auf den von mir für die
"Dokumentation zu den in der DDR hergestellten elektronischen Taschenrechnern"
zusammengetragenen Informationen sowie den mir zugänglichen Taschenrechnern. Obwohl ich vor Jahren noch mündlichen und schriftlichen Kontakt zu Personen hatte, die ehemals verantwortlich leitend für die Entwicklung, Produktions-Vorbereitung und -Durchführung tätig waren, liegen mir keine Aussagen von ihnen zur oben geschilderten Thematik vor. Und inzwischen erhielt ich Kenntnis davon, daß sie für immer uns verlassen haben.

{2}
Bei der Formulierung des Textes und Anfertigung der Bilder setzte ich keine "Künstliche Intelligenz" ein. (Es war noch hinreichend pi vorhanden.) Die Aufnahmen wurden zwar fototechnisch bearbeitet. Doch versichere ich, daß ich keine technikmuseal relevanten Details manipulierte. Die Originale sind bei mir einsehbar.

{3}
Hier eine Erfahrung aus der Instandsetzung alter Taschenrechner verschiedener Hersteller:
Die zur Stromversorgung eingesetzten Knopfzellen befinden sich auf Grund der geringen Leistungsaufnahme der Kombination CMOS-Schaltkreis/Flüssigkristall-Anzeige nicht selten jahrelang in den Taschenrechnern. Mit der Zeit werden sie jedoch undicht und verursachen eine Korrosion der Kupfer-Leiterbahnen vor allem in der Nähe des Minuspols. Dabei kriecht die Korrosion selbst unter die hauchdünne, edle Goldschicht und löst diese ab. Eine "beliebte" Stelle für die Unterbrechung der Leiterzüge sind auch die Übergänge zwischen Vergoldung und Überdeckung durch die Folie.
Für eine Reparatur sind solche wegkorrodierten Stellen durch "Ausklingeln" und optischer Suche mittels starker Lupe/Mikroskop zu orten, vorsichtig etwas von der bedeckenden Folie zu entfernen und die Unterbrechung zu überbrücken. Bewährt hat sich dafür Leitsilber (-Paste). Auch ein angelötetes, dünnes Drähtchen erfüllt diesen Zweck. Doch ist äußerste Vorsicht geboten, denn die umgebende Folie verträgt eine Löttemperatur im Bereich von 180 °C nicht
sehr lange ...

{4}
Ich schrieb "im", weil dem ehrenamtlich geführten Thüringer Museum für Elektrotechnik Erfurt [color="#FF0000"]seit Sommer 2012(!)[color] keine Ausstellungsräume mehr zur Verfügung stehen und das gesamte Archivgut in einem Güterschuppen nahe dem Erfurter Hauptbahnhof eingelagert ist.
<https://www.elektromuseum.de/publication/newsletter/elektromuseum_newsletter_012017.pdf> (ab Seite 3)

{5}
Noch ein Hinweis zu Reparaturen bzw. Neugier-Handlungen:
Die physikalischen Eigenschaften von Kunststoffen verändern sich nach ihrer Herstellung mit der Zeit. Sie vergilben und verspröden. Das betrifft auch das eigentlich hochwertige, thermoplastische ABS (z.B. im MR 6090). Die inzwischen mehr als 34 Jahre alten, filigranen Rasthaken haben deshalb einiges ihrer jungfräulichen Elastizität verloren. Es gilt deshalb, die mechanischen Verbiegungen bei De- und Montage-Tätigkeiten möglichst klein zu halten.

{6}
In den Betrieben der DDR war eine staatliche Qualitätskontrolle realisiert. Dafür zuständig war das 1950 gegründete Deutsche Amt für Meßwesen und Warenprüfung beim Ministerrat der DDR (DAMW). Der Hersteller hatte für jedes industrielle Erzeugnis einen Werkstandard, die TGL (Technische Güte- und Lieferbedingungen) sowie die zugehörigen Prüfvorschriften zu erarbeiten und dem DAMW zu übergeben. Weiterhin war mit einer ersten Serie der Nachweis zu erbringen, daß die TGL unter Produktionsbedingungen eingehalten wurde. Mitarbeiter der TKO (Technische Kontroll-Organisation {gegründet 1949, dem DAMW dann zugeordnet}, eine im jeweiligen Betrieb angesiedelte Abteilung des DAMW, die zwar vom Betrieb bezahlt wurde, jedoch nicht dessen Weisung unterstand) überprüften dies ständig und vergaben dann ein Gütezeichen (bei entsprechendem Wert für jedes einzelne Exemplar). Anfangs gab es die Stufen
S, 1 und 2 :
S - internationales Niveau und Qualität entsprechend TGL,
1 - TGL wird vollständig erfüllt,
2 - vollständige Funkion, doch nicht alle Kriterien der TGL werden eingehalten. Da es praktisch ein negatives Zeugnis darstellte, wurde es folglich meistens weggelassen.
Ab 1959 wurde anstelle des S ein Q vergeben. Die TGL war gerichtlich einklagbares Recht und nicht nur Empfehlung bzw. freiwillige Verpflichtung wie bei DIN!
1973 wurde das DAMW in das Amt für Standardisierung, Meßwesen und Warenprüfung (ASMW) umgewandelt.
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Hier noch Fotos zur eingangs angeführten Gesprächsrunde:
(Der MR 420 enthält mit der FAR18 dieselbe LCD wie der MR 6090.)
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Ich freue über sachdienliche Hinweise auf Fehler und Ergänzungen.
Eine pdf-Version des Aufsatzes mit größerer Auflösung der Bilder kann von mir per 'email' abgerufen werden.
Wer stellt dem Rechenwerk einen ramponierten bzw. defekten MR 6090 zum "Ausschlachten" für Dokumentationszwecke zur Verfügung?

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Dieser Beitrag wurde am 31.12.2024 um 08:31 Uhr von AE editiert.
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