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14.12.2019, 17:21 Uhr
AE
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Die Einführung eines Taschenrechners in den Unterricht der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen der DDR war ein in Stufen über einen Zeitraum von einigen Jahren vollzogener Prozeß. [s.a. http://waste.informatik.hu-berlin.de/robotron/diplom/texte/einsatz/taschenrechner.html u.a., die davon abschrieben und selten ergänzten] Dabei mußte auch geklärt und festgelegt werden, welche rechentechnischen Funktionen solch Schulrechner ausführen sollte. Ausgangspunkt war der abzulösende Einsatz von Rechenstab und Logarithmentafel.
Am Ende der 1970er Jahre warfen fernöstliche und nordamerikanische Primärhersteller nahezu im halbjährigem Rhythmus neue Taschenrechnermodelle mit geändertem Äußeren und leicht modifiziertem Funktionsumfang auf den Massenmarkt, um ihren Anteil am zu verkaufenden "Kuchen" ja groß zu halten. In Europa fand zu dieser Zeit außer in der Sowjetunion und DDR keine eigenständige Produktion von wissenschaftlichen Taschenrechnern mehr statt. Die Taschenrechner der amerikanischen Firma Hewlett Packard waren zwar Spitze, was die rechentechnische Funktionalität betrifft, aber eben auch im Preis. Sie basierten in den ersten Jahren nach 1972 (HP 35 - erster wissenschaftlicher Taschenrechner) auf einer Hersteller spezifischen Mehr-Chip-Architektur und hatten die UPN-Eingabe-Methodik. Ersteres minimiert nicht gerade den Herstellungsaufwand, während letzteres für den schulischen Gebrauch nicht besonders zweckmäßig erscheint.
Andererseits existierte seit 1976 mit dem TI-30 des amerikanischen Herstellers Texas Instruments ein Quasistandard. Seine 28 mathematischen Funktionen, 2 Elementar-Konstanten, 1 saldierender Speicher, algebraische Eingabemethodik mit Klammern, bis zu 11stellige Rechengenauigkeit (bis zu 8 Stellen werden angezeigt dazu 3 Schutzstellen mit 4/5-Rundung) und ein Rechenbereichsumfang von 10^-99 bis 10^99 ließen für den allgenmeinen ingenieurtechnischen Gebrauch kaum noch Wünsche offen. Um den Preis für den Massenmarkt kleinzuhalten (1978 ca. 60 DM), bestand dieser Taschenrechner nur noch aus Tastatur und dem Taschenrechner-Schaltkreis, der gleich auf dem LED-Anzeigemodul montiert war. Zur Verringerung des Stromverbrauchs, hatte er einen Schlafmodus. Doch war die eingesetzte Halbleitertechnologie zu diesem Zeitpunkt bereits veraltet.
In der Sowjetunion wurde seit 1976 mit dem B3-18 ein wissenschaftlicher Taschenrechner produziert. Ab 1977 folgte das Modell B3-19M, welches in Zusammenarbeit mit DDR-Betrieben hergestellt wurde. Die in der DDR produzierte und verkaufte Variante war der konkret 600. [Hierzu wird ein gesonderter Beitrag folgen.] Ab 1979 verließen den VEB Röhrenwerk Mühlhausen die auf vertraglicher Basis mit japanischen Firmen gefertigten ersten Modelle der zweiten Taschenrechner-Generation. Zunächst mit importiertem CMOS-Schaltkreis und japanischer Flüssigkristall-Anzeige, wobei aber bei Produktionsstart bereits feststand, daß sie, sowie das möglich war, durch in der DDR hergestellte Bauteile abzulösen waren. Darunter war mit dem MR 610 auch ein erweiterter wissenschaftlicher Taschenrechner.
Ausgehend von diesem wurden die rechentechnischen Funktionen auf die im Mathematikunterricht bis einschließich der 12. Klasse der erweiterten Oberschulen vermittelten reduziert. (Wer, außer einigen Mathematikern und Physikern, kann mit den hyperbolischen Funktionen überhaupt etwas anfangen?) Dafür kam die Punkt-vor-Strich-Rechnung sowie eine automatische Abschaltung zur Batterie-Schonung hinzu. Warum auf Klammerebenen verzichtet wurde, bleibt das Geheimnis der Auswahlkommission. Auf jedem Fall blieb der algebraische Kern des MR 610 (interne mathematische Routinen, Rechengenauigkeit, Rechenbereichsumfang) unverändert. Ergebnis der davon ausgehenden technisch-technologischen Entwicklung war der ab 1982 zunächst als MR 609 und mit verändert bedruckter Deckplatte (und der damit verdeckten Tastendurchbrüche) als MR 412 verkaufte Taschenrechner. Der Schuleinsatz als SR 1 begann im Unterrichtsjahr 1984/85. Allein dafür mußten in den Folgejahren jeweils mehr als 100 000 Stück bereitgestellt werden. So verwundert es nicht, daß dieser Typ mit mehr als 1,2 Millionen produzierten Exemplaren der häufigste DDR-Taschenrechner wurde. (Die genaue Stückzahl ist schwer zu ermitteln, da die darüber berichtenden Unterlagen nach der durch die Treuhandanstalt veranlaßten Produktionseinstellung 1990 vernichtet wurden. Der genannte Wert wurde durch Beobachtung der im internet nach 2015 auftauchenden Exemplare [für alle drei Varianten zusammen mehr als 500] und die Auswertung interner Eigenschaften von mehr als 30 Taschenrechnern mit dafür relevanten Gerätenummern geschätzt.)
Funktionsbestimmendes Teil des DDR-Schulrechners ist der Schaltkreis U824 hergestellt im VEB Halbleiterwerk Frankfurt/Oder in einer vom ZFTM Dresden erarbeiteten metal-gate-CMOS-Technologie. [s.a. Berkner, Jörg: Halbleiter aus Frankfurt - Die Geschichte des Halbleiterwerkes HFO; ISBN: 9783936124569 ] Wesentliche Teile der technologischen Spezialausrüstung dafür lieferten, bauten auf und nahmen japanische Firmen in Betrieb. Der U824 trägt zwar die niedrigste Typ-Bezeichnungsnummer der dort produzierten CMOS-Taschenrechner-Schaltkreise, doch war er, belegt durch Herstellungssignaturen, nicht der erste auf dieser technologischen Anlage gefertigte Chip. Da wahrscheinlich nicht alles ganz sauber war (Der Import der Anlagenteile verstieß sowieso gegen die damals aktuelle COCOM-Embargo-Liste.), gibt es zu allen DDR-Taschenrechner-Schaltkreisen keinen veröffentlichten Standard (TGL), sondern nur kombinatsinterne Typstandards mit Vertraulichkeitsvermerk. Viele technische Details bleiben so unbekannt, zumal der damit beschäftigte Personenkreis bis heute dazu schweigt und bald für immer schweigen wird. Schade! Denn nach mehr als 40 Jahren kann für das damalige Handeln ein ehemaliger DDR-Bürger nicht mehr belangt werden und es bleibt offen, welchen Anteil unsere Ingenieure bei der Entwicklung und Produktion dieser Schaltkreise hatten.
Während die Typen U825 (äquivalent zum Toshiba T3566) und U826 (T3636) sehr wahrscheinlich als "Gestattungsproduktion" auf der Grundlage von Verträgen hergestellt wurden [Belege dafür finden sich, wenn überhaupt, in den AEB-Akten (Applikationszentrum Elektronik Berlin) der Stasiunterlagen-Behörde in Berlin.], stellte sich die Lage für den U824 bisher so dar, daß über die unmittelbare Produktionsvorbereitung hinaus auch ein Eigenanteil bei der Modifikation interner Programme geleistet wurde. Denn dieser Schaltkreis hatte einige bei den zu Beginn der Entwicklung im ZFTM vorliegenden Toshiba-Typen in dieser Zusammenstellung abweichende Eigenschaften (z.B. Punkt-vor-Strich-Rechnung). Doch nach langem Suchen, Beschaffen und Schaltkreis-Forensik [www.datamath.org/forensic.htm] fand sich doch ein "sehr naher Verwandter", der T3941. Die damit ausgestatteten Taschenrechner (z.B. Canon F-42) haben die gleiche Tastatur-Matrix, die gleiche LCD-Ansteuerung und auch die automatische Ausschaltung nach gleicher Zeit. Da der T3941 jedoch erst drei Jahre nach dem deutlich leistungsstärkeren T3636 von Toshiba produziert wurde, bleibt die Möglichkeit, daß die entsprechende Modifikation von Toshiba als "Bezahlung" übernommen wurde. Doch warum sollte ein Hersteller, der pro Jahr mehrere solcher Modifikationsvarianten in Stückzahlen > 100 000 produziert und vermarktet das notwendig haben?
Vorstehender Beitrag stellt einen bearbeiteten Auszug aus der bisher unveröffentlichten "Dokumentation zu den in der DDR hergestellten Taschenrechnern" dar und basiert auf meinem momentanen Kenntnisstand. Ich bin deshalb dankbar für Hinweise auf fachliche Fehler und Ergänzungen. -> 2 Ergänzungen, 1 sachliche Korrektur Dieser Beitrag wurde am 15.12.2019 um 12:31 Uhr von AE editiert. |